Wenn Ronny kommt

Ein Klassenzimmer, in dem die Luft nach Hormonen riecht und nach Stoffwechsel. Vorn sitzt der Lehrer, hellgrüner Pulli. Die Arme verschränkt auf dem Tisch, sein Rücken ist gerade. Neben ihm steht Ronny Ritze, vom Typ her eine Mischung aus Jürgen Vogel und dem Lehrer aus "Fack ju Göhte", dieser politisch unkorrekten Schulkomödie. Und Ronny Ritze redet mit den Schülern über die wirklich krassen Sachen: "War jemand von euch schon im Knast?"

Einer ruft: "Der Max!"

Alle lachen, außer Ronny Ritze. Er fragt noch einmal:

"Ernsthaft. Kennt jemand jemanden, der im Knast war?"

Einer ruft: "Der Jason!"

Ein anderer: "Der Jonas!"

Schwer einzuschätzen, ob das ein Witz ist, jedenfalls lacht keiner. "Wer kennt jemanden, der kifft?" Bis auf zwei melden sich alle. Der Lehrer im grünen Pulli soll sich bitte wegdrehen, sagt Ronny Ritze vor der nächsten Frage: "Wer von euch kifft selbst?" Es melden sich sechs Jungen und Mädchen. Sechs aus vierundzwanzig: In dieser neunten Klasse einer Chemnitzer Oberschule sagt jeder vierte Schüler von sich, er habe schon Gras geraucht. Manche von ihnen sind vierzehn Jahre alt, manche fünfzehn, sechzehn.

"Kennt jemand jemanden, der Crystal nimmt?" Sieben Hände fliegen nach oben.

Ronny Ritze hält ein bordeauxrotes Buch in der Hand. Es ist ein Sachbuch, er hat es selbst geschrieben und "Texttäter: Therapie oder Tod" genannt. Darin erzählt er die Geschichten von jungen Strafgefangenen aus Ostdeutschland. Die Täter haben sie aufgeschrieben, Ronny Ritze hat sie in ein Buch gekippt und anhand von Fakten ins Bildungssystem einsortiert. Denn für ihn hängt beides zusammen.

Er ist Schreibtherapeut für Strafgefangene, Suchtkranke und Problemschüler und sieht so aus, dass er sich sehen lassen kann bei seinen Kursteilnehmern: Dreitagebart, Sweatjacke. In den Pausen geht er rauchen.

Wenn Ronny aus Rochlitz kommt, wird es ernst. Er wühlt in Biografien. Im besten Fall bringt er seine Leute dazu, sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen. Meistens dauert das Monate. Sie haben dann schon über die Scheidung der Eltern geredet, über Schwangerschaft mit vierzehn und über Väter, die Schnaps zum Frühstück trinken. Wenn sie erzählen, spüren sie, dass es sie entlastet.

Er fährt auch in Schulen. Zu den Mädchen und Jungen, die später Drogendealer werden oder Einbrecher. Und zu denen, die irgendwann Erzieher werden und Sozialarbeiter. Denen, die draußen sind, erzählt er Lebensgeschichten von denen, die drinnen sind. Meistens buchen ihn Lehrer aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, weil sie hoffen, dass Knastgeschichten aus Kindern bravere Jugendliche machen.

Bei Ronny Ritze läuft vieles zusammen: die Kriminalität aus verschiedenen Perspektiven. Seit sieben Jahren geht er als Schreibtrainer in Gefängnissen ein und aus und findet, dass die meisten Straftäter Sozialtherapien brauchen statt Haft: "Aber dann trifft sich der Stammtisch und meint: Die Gerichte hier verhängen viel zu milde Strafen."

Richter sperren junge Straftäter heute seltener weg als früher. Vergangenes Jahr saßen 6200 unter 25-Jährige ein, halb so viele wie im Jahr 2000. Davon waren 286 aus Sachsen, und davon 23 Frauen.

Es spielt eine Rolle, ob Osten oder Westen, sagt Ronny Ritze. Er ist 41 Jahre alt und war zur Wende ein Zehnjähriger in einer Kleinstadt bei Erfurt, der Schriftsteller werden wollte. Es gab viele Kinder im Osten, die sich nach der Wende alleine fühlten, weil ihre Eltern high waren vom Kaufrausch. Heute vor dem bunten Schaufenster, morgen in der Schlange des Arbeitsamtes.

Sie kauften Heizdecken und kaputte Westautos, sie übersahen die nach Halt suchenden Hände ihrer Kinder. Man konnte Neonazi werden oder man hörte Techno, sagt Ronny Ritze, und wer Techno hörte, der brauchte nur einen Schritt und war in der Drogenszene. Er selbst fuhr zur Love-Parade.

Er weiß, dass er überspitzt. Aber viele ostdeutsche Straftäter-Biografien, die er kennt, haben ihren Ursprung in der Wendezeit. Es waren die Jugendjahre ihrer Eltern oder die Jahre ihrer frühesten Kindheit. Als Ronny Ritze 22 ist, erschießt Robert Steinhäuser am Erfurter Gutenberg-Gymnasium fünfzehn Leute und sich selbst. Steinhäuser war drei Jahre jünger als Ritze. Zwei Jungs aus der Erfurter Gegend. Von Steinhäuser gibt es ein Zitat, das er in einem Deutschaufsatz geschrieben haben soll: "Zurzeit ist Schule alles andere als lustig, weil es nur darum geht, irgendwelche Leistungen zu erbringen."

Corina Treuheit arbeitet in Chemnitz als Lehrerin und hat Ronny Ritze in ihr Klassenzimmer geholt. Er stand schon vor mehreren Jahrgängen von pubertierenden Mädchen und Jungen, die sie als Lehrerin aufs Leben vorbereitet hat. "Weil er zeigt, wohin schlechtes Verhalten führen kann", sagt sie. Vor ein paar Monaten habe es Streit in einer Klasse gegeben, weil einer einem Mitschüler das Basecap weggenommen und in die Feuerschale geworfen habe. Die Jugendlichen hatten zusammen Geburtstag gefeiert. Am Ende hätten sie sich auf einen Täter-Opfer-Ausgleich geeinigt.

Ronny Ritze sitzt auf einem Tisch vor den Neunern der Chemnitzer Oberschule und fragt die Top drei der häufigsten Jugendstraftaten ab. Wer richtig tippt, bekommt einen Lolli. Es sind Körperverletzung, Diebstahl, Schwarzfahren. Ohne Fahrschein im Bus sitzen und schon kriminell und auf Platz eins, wer hätte das gedacht?

"Jetzt hör doch mal auf und halt deine Schnauze!", brüllt ein bulliger Junge aus der vorletzten Reihe zu einem, der vor ihm kichert. Etwas später wird sich der Bullige weiter vor setzen. Und Ronny Ritze wird behaupten, dass 90 Prozent dieser Mädchen und Jungen irgendwann irgendwie Kontakt mit Crystal haben werden.

Er sagt, er ist die Stimme der Jugendlichen im Knast. Einer von ihnen ist Markus, jedenfalls nennt er ihn so. Markus ist achtzehn, klein, schmächtig und ständig breit im Kopf. So streunert er durch die Straßen seiner Stadt.

Markus läuft durch eine Eigenheimsiedlung, sieht die offene Terrassentür eines Häuschens, robbt leise hindurch und hinter dem Rentnerehepaar vorbei, das vor dem Fernseher sitzt. Er schleicht zum Kühlschrank, weil er Hunger hat. Blutwurst will er nicht, saure Gurken auch nicht. Markus rührt nichts an und verschwindet. Eine halbe Stunde später kehrt Markus zurück ins selbe Häuschen und trifft den alten Mann vorm Kühlschrank, bleich und zitternd.

Ronny Ritze sagt, solche Markusse bevölkern den Jugendvollzug. Man kann selbst darauf kommen, wenn man sich ein paar Tage lang in ein beliebiges ostdeutsches Amtsgericht setzt und Strafprozesse mit jungen Angeklagten verfolgt.

Manchmal hält er seine Vorträge in Berufsschulklassen vor angehenden Erziehern und Erzieherinnen. Jugendliche, die ihren Weg gefunden haben. Sie sollen die Fähigkeit entwickeln, sich in die jungen Menschen hineinzudenken, die sie später einmal erziehen sollen.

In solchen Klassen klemmt es meistens am Anfang. Da stehen Thermosflaschen auf den Tischen, und die ganz Ehrgeizigen machen sich Notizen, und an den Wänden hängen Bilder von der Entwicklung des Kleinkindes zum Jugendlichen. Wenn Ronny Ritze Sätze sagt wie "Crystal enthemmt und macht Zombies", sind die meisten peinlich berührt.

Von den Neunern aus der Chemnitzer Oberschule tragen zwei während der Stunde eine Wollmütze. Vielleicht ist das respektlos, vielleicht einfach nur gemütlich. Ronny Ritze erzählt, dass die Jugendgefängnisse ein bisschen an Feriendörfer erinnern. Es gibt Basketballplätze und Bolzplätze, Yogakurse, Knastbands und vegetarisches Essen. "Aber Jungs wie Markus müssen dringend Fernsehgucken und genießen lieber den Ausblick", sagt er.

In Wahrheit sei es so, dass die großen Jungs die kleinen Jungs nicht mitspielen lassen, aber das gebe keiner offiziell zu. Die Kleinen hätten Angst vor den Großen und verkümmerten in ihren Zellen. Jedes Gefängnis hat seine Hackordnung, sagt Ronny Ritze. Ein Haftplatz kostet pro Monat rund 4000 Euro. Das Geld würde er für Menschen wie Markus anders ausgeben.

Romeo ist vierzehn Jahre alt, lebt mit seiner Mutter in Erfurt und hat schon in der Grundschule so oft geschwänzt, dass man ihn einmal in die Psychiatrie brachte und ein andermal in die Kinderwohngruppe. Romeo sagt, er hatte Angst vor der Schule, vor dem Leistungsdruck. Wenn er an Schule dachte, habe er Migräne bekommen: "Ich dachte, die anderen lachen mich aus, wenn ich wieder hingehe." Er besucht nun eine Schule für Schwänzer und Schulabbrecher. Fünf Schüler pro Klasse, viel Sport, Lebenstraining, Selbstreflexion. Er geht gern.

Dienstags kommt Ronny Ritze und macht mit Romeo und seiner Klasse Schreibwerkstatt. "Aber wir reden mehr, als dass wir schreiben", sagt Romeo. Er sagt, dass der Unterricht ihn verändert. Dass er über sich selbst lernt: "Wenn man schreibt, fühlt man sich ganz anders." Romeo kann reden, man könnte ihn für einen Gymnasiasten halten. Nach dem Schulabschluss will er Krankenpfleger werden, das könnte ihm Spaß machen. Ein Junge mit silberner Halskette und zartem Bartflaum über den Lippen.

Eigentlich kam der Job als Schreibtrainer zu Ronny Ritze und nicht umgekehrt. 2014 öffnete die Jugendstrafanstalt in Arnstadt, und er hatte in der Nähe einen Buchladen, der nichts abwarf. Obwohl er Kaufmann gelernt hatte. Man habe ihn gebeten, an Weihnachten im Jugendgefängnis eine Weihnachtsgeschichte vorzulesen, Dickens vielleicht. Er sah sein Publikum und entschied sich für die selbst geschriebene Geschichte eines Crystal-Meth-Abhängigen. Am selben Abend habe er eine E-Mail von der Leitung bekommen und das Angebot, einen Schreibkurs zu geben.

Seitdem kommt er herum in der Parallelwelt. Wenn diese Seelen Texte produzieren, habe er beim Abtippen manchmal ihren Geruch in der Nase, nach Alkohol und Tabak, nach Cornflakes und Pfandflaschen. Die Texte riechen nach ihrem Wohnumfeld, und manchmal findet Ronny Ritze, dass sie stinken und man sie deswegen lesen sollte.

Die Luft riecht wirklich verbraucht im Klassenzimmer der Neuner in Chemnitz. Immer wieder kippen sie die Fenster und öffnen die Tür, weil es hier ohne Lüftungsanlage und mit vielen Schülern in kleinen Zimmern gehen muss. Der Lehrer im grünen Pulli ist weg. Er musste in eine andere Klasse zum Unterricht, es hatte zur Pause geklingelt.

Ronny Ritze wurde für zwei Stunden gebucht. Jetzt passt eine Lehrerin auf, aber lieber wäre er mit den Jugendlichen allein, weil ein Lehrer ein Lehrer ist. Sie reden wieder über Crystal. Manchmal erzählt Ronny Ritze, dass das Zeug Batteriesäure enthält und dass es Heimplätze gibt für Crystal-Mütter mit Crystal-Kindern, die nie beschulbar sein werden. "Hat euch schon jemand Crystal angeboten?", fragt Ronny Ritze. Einer hebt die Hand: "Einmal an der Zenti, das war abends. 23 Uhr oder so, einfach so." Dann ist die Zeit abgelaufen. Sie haben überzogen, wer jetzt nicht geht, bekommt kein Mittagessen.

Morgen ist er bei den angehenden Erziehern und übermorgen auch, sagt Ronny Ritze im Gehen. Er würde die Gesellschaft therapieren, indem er jeden in seiner eigenen Geschichte wühlen lässt.

 

© Copyright Chemnitzer Verlag und Druck GmbH & Co. KG, Manuela Müller (Text), Uwe Mann (Foto) 10.12.2021